Experten-Interview: Wellness aktiv gestalten

Was tut sich zurzeit in Sachen Wellness? Was sind die aktuellen Trends? Dazu führten wir ein Interview mit Lutz Hertel, dem Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Wellness-Verbands. Der Diplom-Psychologe ist einer der führenden Wellnessexperten im deutschsprachigen Raum und gilt mit seinem strikten Qualitätskurs als Vordenker der Branche. Sein Credo: Wellness hat wenig mit luxuriösem Verwöhntwerden zu tun, es ist eine Lebenseinstellung. Das Interview wurde in gekürzter Form in „Schwimmbad & Sauna“ 7/8-2016 veröffentlicht – hier lesen Sie die Langfassung.

Sie haben vor 26 Jahren den Deutschen Wellness-Verband gegründet. Was hat sich seither in Sachen Wellness verändert?
Sehr viel! Ende der 80er-Jahre hatte ich als Berater für Organisations- und Personalentwicklung erstmals Notiz von der amerikanischen Wellnessbewegung genommen und war in die USA gereist, um mich genauer darüber zu informieren. Ich besuchte die National Wellness Conference an der Universität von Stevens Point, Wisconsin. Mehrere tausend Menschen mit professionellem Hintergrund nahmen daran teil. Ich war sehr beeindruckt vom Ausmaß dieser Community, von der allgegenwärtig guten Stimmung unter den Leuten und von der Authentizität der ganzen Veranstaltung. Hier wurde nicht nur über Wellness referiert, es wurde umfassend gelebt.
Was mich aber am meisten beeindruckte, war die persönliche Begegnung mit den Gründungsvätern der Wellnessbewegung: Dr. Donald Ardell, Dr. John Travis und Dr. Bill Hettler. Ihre Gedanken und Konzepte nahm ich mit nach Deutschland und schrieb Artikel über die Wellnessphilosophie. Das interessierte erst einmal vor allem die Fitnessbranche, dann auch Krankenkassen und Betriebe, die sich mit Gesundheitsproblemen ihrer Mitarbeiter auseinandersetzten.
Dann trat die Konsumindustrie auf den Plan und verheizte Wellness als Werbefloskel für nahezu alles, was man Verbrauchern verkaufen kann: Socken, Teebeutel, Joghurt, Duschgel, Textilien, Badewannen, bis hin zu Katzenfutter und Autopolitur. Zwar ließ sich mit dem W-Wort der Gewinn erfreulich steigern, aber nach und nach zog diese Verkaufsmasche weniger gut, wenngleich es bis heute immer noch unzählige Produkte gibt, die mit „Wellness“ plakatiert werden. Für mich ist dieser katastrophale Imageschaden bis heute nicht wieder gut zu machen gewesen.
Seit Mitte der 90er Jahre entwickelte sich parallel dazu ein neuer Markt: Der Wellnesstourismus. Ich selbst war daran maßgeblich mit beteiligt, hatte ich doch schon früh mit der Konzeption des „Wellnesshotels“ begonnen, etwas, das es bis dato nirgends auf der Welt gab, auch nicht im Mutterland der Wellnessbewegung, den USA. 1997 wurde ich dann Geschäftsführer der ersten deutschen Wellnesshotel-Kooperation. Seitdem bringen immer mehr Menschen Wellness mit Wellnesshotels, Pools, Sauna, Massage und Kosmetik in Verbindung. Der Wellnesstourismus wurde zu einem gigantischen neuen Markt, nicht nur in Deutschland – die Wellnessphilosophie blieb dabei aber leider auch völlig auf der Strecke. Das gilt bis heute.
Die meisten Menschen glauben doch, Wellness sei eine Umschreibung für Entspannung und sich verwöhnen lassen, am Besten in luxuriöser Umgebung. Man denkt an attraktive Menschen in weißen Bademänteln, auf einer Liege am Hotelpool oder auf einer Massagebank mit ein paar aneinandergereihten Steinen auf dem Rücken. Geben Sie einfach mal „Wellness“ in eine Internet-Suchmaschine ein und lassen Sie sich die Trefferbilder anzeigen. Ein tragisches Missverständnis, denn das alles hat mit Wellness im eigentlichen Sinne so gut wie nichts zu tun.

Wie definieren Sie Wellness?
Wellness ist eine Lebensphilosophie und zugleich auch ein Lebensstil. Einfach gesagt geht es darum, die menschlichen Potenziale zu erkennen und im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten das Beste daraus zu machen – also ein erfolgreiches Leben zu leben. Der Weg zu Glück und Wohlbefinden ist ein aktiver, kein passiver! Entspannung allein macht uns nicht glücklich. Wellness kann auch niemand für uns oder an uns machen. Man kann das nicht kaufen, sondern nur durch eigenes Denken, Fühlen und Handeln zum Vorschein bringen.
Ich halte das „REAL-Wellness-Modell“ für hilfreich, um zu verstehen, wie man die  Wellness-Philosophie lebt.
R steht für Ratio, für den Gebrauch des eigenen Verstands. Dazu gehört ein messerscharfes, kritisches Denkvermögen, aber auch die Orientierung an den Erkenntnissen der Wissenschaften statt an Glauben und Aberglauben. Befassen Sie sich stattdessen mit der wissenschaftlichen Philosophie des Glücks, der Ethik und der Moral.
E steht für Enthusiasmus, die überschwängliche Freude am Leben mit all ihren emotionalen Erscheinungsformen. Kennen Sie die Positive Psychologie? Sie liefert jede Menge wissenschaftliche Erkenntnisse und Hilfestellungen für echtes menschliches Glück und Wohlbefinden.
A repräsentiert die Achtsamkeit für unsere physische und psychische Verfassung. So wie ein Athlet seinen Körper und Geist mit Disziplin trainiert und vervollkommnet, so kann sich grundsätzlich jeder von uns im Rahmen seiner Möglichkeiten in seine individuelle Bestform bringen und diese so lange wie möglich aufrechterhalten.
L schließlich steht für die Freiheit – la Liberté. Schätzen und nutzen wir unsere Freiheitsrechte, machen wir tatsächlich Gebrauch von den vielen Freiheiten, unser Leben so zu leben, wie es uns entspricht, ohne dabei die Rechte anderer zu verletzen.

Wellness ist nicht nur eine Angelegenheit des Körpers, sondern auch des Geistes. Was macht Ihrer Ansicht nach diese geistige Wellness aus?
Es gibt viele Facetten. Das, was wir als Geist bezeichnen, ist ein Produkt unseres Gehirns. Das Potenzial des Gehirns nutzen die meisten Menschen nur zu einem Bruchteil, leider. Man sollte aus dieser Erkenntnis doch etwas lernen. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant kommentierte dies mit der Aufforderung: Sapere aude! – Wage, zu denken! Gemeint ist damit das eigenständige Denken. Das aber ist vielen Menschen abhanden gekommen, in erster Linie aus Bequemlichkeit und Faulheit, so Kant. Wenn wir ein gelingendes, glückliches Leben führen möchten, dann ist es wichtig, die Welt um uns zu verstehen und kluge Entscheidungen zu treffen. Das geistige Potenzial dafür ist vorhanden, wir müssen es nur nutzen und entfalten. Natürlich ist das mit Anstrengung verbunden. Muskeln wachsen durch Beanspruchung. So ist es auch mit unseren Hirnzellen. Zur geistigen Wellness gehört also eine lebenslange Schule des Denkens.
Wir können und sollten Glauben durch Wissen ersetzen. Es kann großes Vergnügen bereiten, Täuschungen zu durchschauen und den, der täuscht, zu entlarven. Wie oft versucht man uns mit angeblichen Studien zu überzeugen, die für ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung sprechen. Kaum jemand ist in der Lage oder macht sich die Mühe, das zu hinterfragen. Geistige Wellness tut aber genau das. Hinterfragen Sie zum Beispiel einmal den wirklichen Nutzen von Brustkrebs- oder Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchungen.
Ein anderer Aspekt geistiger Wellness ist die Beschäftigung mit philosophischen Lebensfragen, wie etwa dem Sinn des Lebens. In kosmischen Dimensionen ist das Leben des Einzelnen nur ein sehr schmales Tal zwischen den Gipfeln zweier Unendlichkeiten. Dennoch kann mein Leben so bedeutungsvoll sein, wie ich es mit meinem geistigen Potenzial erkennen kann. Gerade geistige Wellness erschließt einen großen Reichtum menschlicher Potenziale, die anderen Lebewesen überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Auch die Kontrolle oder Beherrschung der geistigen Aktivität gehört dazu. Denken Sie zum Beispiel an die Placebo- und Nocebo-Wirkungen, an Pessimismus und Optimismus.
Meditation ist eine geistige Übung, um das Chaos oder den Strom der Gedanken zu beruhigen, vielleicht sogar zum Stillstand zu bringen. Die Plastizität unseres Gehirns, die strukturelle Veränderbarkeit aufgrund unseres Verhaltens und Umgangs mit unserem Geist, ist inzwischen gut untersucht und belegt. Es sind aber immer noch nur wenige Menschen, die davon bewusst Gebrauch machen, um ein erfüllendes, glückliches Leben zu führen.

Was ist definitiv keine Wellness?
Sie meinen mit dieser Frage vermutlich Produkte und Dienstleistungen, die mit dem Begriff „Wellness“ in Verbindung gebracht werden. Eigentlich habe ich Ihnen die Antwort bereits gegeben. Es gibt keine Wellnessprodukte oder -Dienstleistungen, wenn wir Wellness richtig verstehen. Wir können von vorn herein alle Produkte ausklammern, die nur zu Werbezwecken mit dem Begriff „Wellness“ etikettiert sind. Lassen wir uns aber dennoch auf den gegenwärtigen Markt ein, dann würde ich eine Gegenfrage stellen: Hilft Ihnen ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung, Ihre Potenziale für ein glückliches und erfülltes Leben auszuschöpfen, im Sinne des „REAL-Wellness-Modells“? Werden Sie in Ihrem Wellnesslebensstil wirksam unterstützt? Verbessern sich Ihre Fähigkeiten, der oder die Beste zu sein, der oder die Sie sein können?

Welche aktuellen Trends beobachten Sie zurzeit auf dem Wellnessmarkt?
Ich habe den Eindruck, dass die passiven Wellnessangebote wie Massagen und Kosmetikbehandlungen um aktive Angebote und um Anleitungen zur Selbstkompetenz erweitert werden. Kunden erlernen zum Beispiel im Rahmen einer Behandlung kleine Übungen, die sie zu Hause selbständig praktizieren können, damit sie sich wohl fühlen. Es werden Hinweise auf die Bedeutung der Ernährung für unser Wohlbefinden gegeben.
Überhaupt gewinnt das Interesse an den gesundheitlichen Wirkungen der Wellnessangebote an Bedeutung. Gesundheit ist ein sehr zentrales Anliegen und ein zwangsläufiges, willkommenes Nebenprodukt, wenn ich Wellness nicht nur konsumiere, sondern auch richtig lebe.
Spannend ist der Trend, dass sich immer mehr Menschen von kleinen Computern selbst überwachen lassen. Sogenannte „Fitness-Tracker“ oder „Wearables“ registrieren vor allem das Bewegungsverhalten und motivieren dazu, bestimmte Zielwerte zu erreichen, die als vorteilhaft gelten. Die „Quantified Self“ Bewegung ist international und sehr dynamisch, der Trend zur Selbstoptimierung wird aber auch kritisch beurteilt. Die Sicherheit und Verwertung der gesammelten Daten ist ein problematischer Aspekt, aber auch die drohende Versklavung gegenüber einer elektronischen Maschine und programmierten Normen gibt Anlass zur Sorge.

Wie sieht es im Augenblick mit Wellness und Nachhaltigkeit aus?
Schlecht. Das Konzept der Nachhaltigkeit findet in der Wellnessbranche bis heute so gut wie keine Beachtung. Ich habe mich schon vor Jahren für eine entsprechende Initiative eingesetzt, der wir den Namen „Green Spa“ gegeben haben. Hierfür formulierten wir einen Kodex, den grundsätzlich jeder mit seiner Unterschrift befürworten kann. Darüber hinaus entwickelten wir eine Nachhaltigkeitszertifizierung, speziell zugeschnitten für die Wellness- und Spa-Branche. Wir suchten Unternehmen der Zulieferbranche, die als Green-Spa-Partner alle benötigten Güter liefern, um ein Wellnessunternehmen nachhaltig einrichten und betreiben zu können.
Die Resonanz darauf ist bis heute enttäuschend und in meinen Augen auch beschämend für die ganze Branche. Lippenbekenntnisse gibt es viele. Auch das „Greenwashing“ ist weit verbreitet. Echte Nachhaltigkeit setzt hingegen eine entsprechende Einstellung zum Leben, zur Gesellschaft und zu seiner Geschäftsphilosophie voraus. An dieser Einstellung mangelt es, nicht nur auf Seiten der Anbieter, sondern auch auf Seiten der Kunden.

Sehen Sie Wellness eher als eine Angelegenheit, die man allein ausübt – oder ist Wellness überwiegend ein Gemeinschaftserlebnis? Oder muss man das von Fall zu Fall differenzieren?
Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse und Vorlieben. Im „REAL-Wellness-Modell“ berührt das den Aspekt der Freiheit. Jeder sollte für sich entscheiden dürfen, wie er es gerade am liebsten hätte. Problematisch wird es eigentlich nur dann, wenn sich gegensätzliche Interessen begegnen und Freiheiten auf Kosten anderer gelebt werden. Dies ist auch eine Herausforderung für Wellnessunternehmen, zum Beispiel Hotels, Spas oder Thermen. Grundsätzlich aber ist das Gefühl und Erleben von Verbundenheit ein ganz bedeutendes für ein glückliches Leben. Zum menschlichen Potenzial gehört das Wohlbefinden in einer Gemeinschaft, die von Vertrauen, gegenseitiger Wertschätzung, Unterstützung und Zuwendung geprägt ist. Soziale Isolation, ob erzwungen oder freiwillig, ist auf Dauer sehr schädlich.

Was ist Ihr ganz persönliches Wellness-Rezept?
Sich selbst die Zeit nehmen, die man braucht und mehr analog als digital leben. Die heutige Geschwindigkeit des Lebens entspricht in den wenigstens Fällen unseren Fähigkeiten, damit Schritt zu halten. Ein altes Sprichwort sagt nicht zu Unrecht: In der Ruhe liegt die Kraft. Damit ist auch eine deutlich höhere Lebensqualität verbunden. Ich nehme mir die Freiheit, in meinem persönlich passenden Tempo zu leben und akzeptiere auch die Konsequenzen, die das mit sich bringt.
Zum Zweiten glaube ich, dass unser menschliches Potenzial sich im wirklichen Leben erfüllen sollte, nicht in virtuellen Welten des Internets oder anderer elektronischer Medien. Dies sind Ersatzwelten mit immer mehr Vortäuschungen, die uns vom wirklichen Glück des Lebens trennen. Wer sich davon entgiftet, wird auch schnell die Rückkehr zu einem humaneren Lebenstempo erfahren. Erkennen Sie die Matrix, in der Sie gefangen gehalten werden, und dann befreien Sie sich daraus. Glauben Sie mir, es geht.

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